Auf der diesjährigen „didacta Bildungsmesse“ konnte ich mit der ehemaligen Bundesgesundheitsministerin, Bundestagsvizepräsidentin und jetzigen Vorsitzenden der „Bundesvereinigung Lebenshilfe e.V.“ sprechen, Frau Ulla Schmidt.
Beim Interview traf ich auf eine Person, die niemandem mehr etwas beweisen muss, aber zu ihrem Werten und Forderungen steht, ungeachtet von Parteipolitik. Als ich ihr meine Fragen vorstellen wollte, antwortete Frau Schmidt ohne Hemmungen: „Ja ja, Sie können das alles machen.“
Schmidt: Ich bedanke mich für die Einladung.
Hendrik: Ich glaube, in vielen Interviews wurden Sie schon nach Politik gefragt, nach Ihrer Karriere, Ihrem Kommen und Gehen im Bundestag. Lassen Sie uns jetzt über etwas anderes sprechen. Sie waren vor Ihrem Einstieg in die Berufspolitik nämlich Förderschullehrerin in der Nähe von Aachen. Wie hat Sie das als Mensch geprägt?
Schmidt: Das hat mich sehr geprägt. Ich bin mit dem Lebensprinzip aufgewachsen, dass man soziale Verantwortung übernehmen muss. Ich habe damals nicht von mir selber aus entschieden, Sonderschullehrerin zu werden, sondern habe erst Grund- und Hauptschullehreramt studiert, bekam dann aber nur eine Stelle an einer damaligen “Sonderschule für Lernbehinderte.” Heute würde man sagen, eine Schule für “Kinder mit Förderbedarf Lernen”. Ich habe diese Arbeit so geschätzt, weil ich gesehen habe, wie viele Fähigkeiten der Kinder man durch individuelle Förderung entwickeln kann und wie begabt viele Kinder in vielen Bereichen sind. Nicht in allen Anforderungen, die man ihnen stellt, aber doch da, worin sie Potenzial haben. Ich habe dann berufsbegleitend das Studium der Sonderpädagogik für verhaltensauffällige und lernbehinderte Schülerinnen und Schüler absolviert. In den 80er Jahren arbeitete ich als sogenannte Integrationslehrerin im gemeinsamen Unterricht. Wir haben mit drei Lehrkräften aufgebaut, speziell für Kinder mit herausforderndem emotionalen Verhalten. Unsere Hauptaufgabe war es, in die Schule zu gehen und mit Lehrkräften, Kindern und Erziehenden zu arbeiten. Das prägt schon sehr.
Hendrik: Vielleicht schließt sich ja ein Kreis, wenn Sie über die Politik hinaus wieder einer Tätigkeit nachgehen, die auf die Schwächsten unserer Gesellschaft Rücksicht nimmt. Wie kamen Sie vor zwölf Jahren gerade zur Lebenshilfe?
Schmidt: Schon als Gesundheitsministerin stand ich immer im engen Kontakt mit der Lebenshilfe. Wir wissen bis heute, dass wir kein barrierefreies Gesundheitswesen haben, aber wir haben damals versucht, Schritt für Schritt die Bedingungen zu verändern, um auch Förderungen für Betreuung und viele andere Dinge zu schaffen. Und insofern habe ich eng mit der Lebenshilfe und anderen Organisationen zusammengearbeitet. Als der damalige Vorsitzende nicht mehr kandidierte, wurde ich dann gefragt. Ich habe gesagt, es kommt auf den Arbeitsaufwand an. Vier Vorstandssitzungen, wurde mir gesagt, und ja noch die geschäftsführenden Vorstandssitzungen. Ich entschied mich für die Lebenshilfe, weil mein Herz auch bei Kindern und Menschen mit Beeinträchtigungen war. Und ich kannte die Lebenshilfe auch vor Ort.
Hendrik: Sind es dann nur vier Sitzungen im Jahr geworden?
Schmidt: Nein, ein solches Ehrenamt ist natürlich ein Fulltime-Job. Aber das Gute war, dass ich in meiner Zeit im Deutschen Bundestag die Interessen der Menschen mit Behinderung immer in alle Politikbereiche einbringen konnte. (…). Ich mache das gerne, und es hat mich in meiner politischen Arbeit immer geerdet. Man kommt mit dem wirklichen Leben in Kontakt. Wir haben gerade eben [in der Veranstaltung] von Eltern gehört, die auf sehr viele Schwierigkeiten bei Rechtsansprüchen stoßen, die sie durchsetzen wollen. Und jetzt bin ich schon im 13. Jahr im Amt.
Hendrik: Wie kann man sich Ihre Arbeit eigentlich vorstellen? Ist es eher repräsentativ, wie hier auf der didacta, wo Sie viele Veranstaltungen besuchen oder auch geben, oder ist es organisatorisch und planerisch?
Schmidt: Eigentlich ist es beides, wobei das wirklich Organisatorische und Planerische die Bundesgeschäftsstelle übernimmt. Ich könnte mein Ehrenamt nicht ausüben, wenn ich nicht den professionellen Hintergrund hätte. Ich könnte nicht mal die Termine koordinieren. Als Bundesverband sind wir überall anerkannt, auch in der Fachkompetenz, und werden zu Gesetzen und vielen anderen Entscheidungen angehört. Da müssen natürlich Vorlagen entwickelt werden, aber die konzipieren wir auch zusammen, genehmigt vom Vorstand, basierend auf Grundlagen, auf die sich der Verband geeinigt hat. Es sind auch repräsentative Aufgaben, weil ich natürlich auf vielen Veranstaltungen dafür werbe, dass Inklusion zum grundlegenden Lebensmodell hier bei uns in Deutschland wird. Und Verbände und Ortsvereinigungen laden mich auch immer gerne zu Veranstaltungen ein. Es wird nicht langweilig, sagen wir mal so.
Hendrik: Welche Rolle spielt die Lebenshilfe im Bereich Kinder- und Jugendhilfe sowie auch in der Schulbegleitung?
Schmidt: Die Lebenshilfe bietet selbst Schulbegleitung an. Zumindest in Nordrhein-Westfalen ist es leider so geregelt, dass die verschiedenen Organisationen auch die Schulbegleiter einstellen, geordnet je nach Behinderungsart, wir sind da immer noch sehr spartenorientiert. Ich würde mir wünschen, dass die Lebenshilfe oder andere Organisationen in der fachlichen Ausbildung zwar eine Rolle spielen, wir Schulbegleitung aber in der gesamten Klasse anbieten können und nicht nur für ein Kind zuständig sind. Es gibt Kommunen, die dafür sorgen, dass Schulbegleitung anständig bezahlt wird. Aber es ist nicht überall der Fall, dass Schulbegleiterinnen und -begleiter ganzjährig bezahlt werden und nicht nur, wenn das Kind in die Schule geht. Es gibt ein breites Spektrum an nicht fördernden Dingen, und da müssen wir weiterkommen.
Hendrik: Wo wir gerade bei den Dingen sind, die noch nicht laufen: Was würden Sie gerade im Bereich Inklusion an Schule verändern, wenn Sie es mal ganz frei machen könnten, ohne Einschränkungen, und es einfach mal durchsetzen könnten?
Schmidt: Man kann da von vier Punkten sprechen. Es braucht eine bundeseinheitliche Planung dahingehend, wie eigentlich unser Schulsystem umgestaltet werden soll , damit es dem Rechtsanspruch der Behindertenrechtskonvention genügt, die besagt, dass jedes Kind auch mit Beeinträchtigung das Recht hat, auf eine allgemeinbildende Schule zu gehen. Der Staat ist verpflichtet dafür zu sorgen, dass das in allen Klassenstufen funktioniert. Und das geht meiner Meinung nach nur mit einer bundesweiten Strategie. Die Kultusministerkonferenz geht heute davon aus, dass es bis 2030 wieder mehr Beschulung in Förderschulen gibt. Als Zweites sollte sich der Staat verpflichten, die finanziellen und personellen Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Dafür zu sorgen, dass die Bildungsorte barrierefrei sind. Nicht nur Rollstuhlrampen, sondern auch barrierefreie Angebote für blinde Menschen oder für Gehörlose. Warum wird nicht beispielsweise in allen Schulen Gebärdensprache angeboten? Das Dritte ist, dass Lehrerausbildung umgestellt wird. Sonderpädagogische Kompetenzen müssen die Grundlage eines jeden pädagogischen Studiums sein. Erst darauf kommt dann die fachliche Kompetenz. Und als Viertes brauchen wir eine wirkliche Kampagne, die anerkennt, dass Inklusion ein Menschenrecht ist, keine zusätzliche Belastung. Es hat mich erschreckt, dass in einer Umfrage herausgekommen ist, dem großen Teil der Lehrerschaft sei nicht bewusst, dass es sich hier um eine Menschenrechtsfrage handelt. Dafür muss man werben. Die Mehrheit der Menschen wollen Menschenrechte umsetzen.
Hendrik: Das sind ja einige Themen, die Sie umsetzen wollen und für die Sie ja auch arbeiten. Vielleicht ist es ja eine Entlastung, dass Sie aus der Tagespolitik mittlerweile draußen sind und trotzdem die Frage: sehen Sie das Bundesgesundheitsministeramt als ein sehr undankbares Amt an, gerade zu Corona-Zeiten? Sie haben das ja auch sicherlich verfolgt, ihre Nachfolger, die zu kämpfen hatten.
Schmidt: Als Gesundheitsminister oder -ministerin ist man jeden Morgen neu vor Herausforderungen gestellt. Das geht nicht nur uns (in Deutschland) so. Ich habe auch mit vielen Kollegen auf der internationalen und europäischen Ebene zusammengearbeitet. Manchmal war es in anderen Ländern noch viel schlimmer als bei uns. Das war schon herausfordernd. Aber ich habe das trotzdem gerne gemacht, weil man so viel bewegen kann und weil es auch eine sehr vielfältige Arbeit ist. Sie haben die lauten Verbände, sie haben aber daneben auch eine unheimliche Kompetenz. Sie haben eine hohe Innovationskraft im Gesundheitssystem. Ich kenne kaum ein anderes System, das so innovativ ist wie das Gesundheitssystem. Sie haben unheimlich viele Menschen, die ganz engagiert da sind, um andere da zu unterstützen, wo sie es brauchen. Aber natürlich ist da auch der Ärger, das ewige Auspfeifen, die Beschimpfungen bis hin zu Todeswünschen. Wir hatten damals die Herausforderungen mit der Vogelkrippe, dann gab es Herausforderungen mit Sars (, Epidemie in 2002/3), und dann waren die schwarzen Bomben unterwegs. Dann wurde befürchtet, Pocken-Viren seien im Umlauf, die absolut tödlich sind. Corona war nun auch eine besondere Situation. Das Gesundheitsministeramt ist ein Amt, wo Sie im Nachhinein denken, dass Sie vieles erreicht haben und vieles haben auf den Weg bringen können. Nicht immer alles, aber das ist in einer Demokratie so: man muss Mehrheiten haben und Kompromisse machen, sonst kann man nichts entscheiden.
Hendrik: Denken Sie schon an die Bundestagswahl 2025 und hoffen Sie persönlich auf eine weitere Ampelkoalition, fernab der Parteipolitik?
Schmidt: Naja, wenn man das aktuell sieht, hofft man nicht darauf *lacht*. Vielleicht auf andere Konstellationen. Ich finde manches sehr schwierig, aber ich muss auch sagen – ich bin jetzt so alt wie die Bundesrepublik – keine Politikergeneration hat nach der Gründung der Bundesrepublik vor so vielen neuen Herausforderungen gestanden, die ja global sind, die uns betreffen, obwohl alle gedacht haben, damit werden wir nicht mehr konfrontiert. Die Ampel hat auch viel geschafft. Im letzten Jahr hat trotz des Fehlens von Erdgas niemand gefroren. Wir haben der Ukraine helfen können, über eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine gut einbinden können und als zweitgrößter Unterstützer der Ukraine unheimlich viel in Deutschland geleistet, eine Aufgabe, die die Ampel gemeistert hat. Ich glaube, man muss da mit mehr Ruhe draufschauen und das auch ein bisschen weniger emotional und aus dem Bauch heraus beurteilen.
Hendrik: Vielleicht wird die Ampel historisch auch noch anders beurteilt werden, wer weiß. Jetzt nochmal auf die didacta bezogen – was haben Sie hier 2024 erlebt?
Schmidt: Ich konnte meine früheren Kolleginnen aus dem Sonderschulbereich hier treffen. Wir hatten eben eine Diskussion über das Thema “Anspruch und Wirklichkeit”, mit verschiedene Positionen, aus der Sicht eines Kultusministeriums, aus der Sicht der Lehrkräfteausbildung, einer Schulleitung und von mir. Es ging um eine Analyse, woran vieles scheitert und warum wir nicht weiter sind, in einem Land, in dem das möglich wäre. Eigentlich ist es beschämend wie wenig wir in der schulischen Inklusion erreicht haben. Wir haben viele tolle Schulen mit Angeboten, aber nicht überall und auch nicht für jeden und jede zugänglich. Die zweite interessante Veranstaltung heute war die Inklusionssprechstunde, bei der wir waren. Da konnten Fragen gestellt werden, und es wurde nochmal deutlich, wie viele Schwierigkeiten Eltern heute noch haben, ihre Rechtsansprüche durchzusetzen. Das geschriebene Recht ist das eine, ich sage immer, das gelebte Recht ist relevant. Und dort gibt es oft Diskrepanzen. Und ansonsten habe ich Interviews geführt, mit Ihnen und mit anderen Leuten. Und dann muss ich auch wieder weiter *lacht*.
Hendrik: Als letzte Frage, die ich allen Gesprächspartner*innen auf der Messe stellen möchte, also auch Ihnen, nun diese: was ist Ihr Traum vom Bildungssystem im Jahr 2050?
Schmidt: Ein Bildungssystem, das in der Lage ist, im Regelschulsystem jedem Einzelnen die individuelle Unterstützung zu geben. Um das Leben bewältigen, den rechten Platz finden, seine Fähigkeiten erkennen und die Chancen wahrnehmen zu können, die es bis dahin geben wird.
Fotos:
-Beitragsbild: SPD Fraktion/ Foto: Benno Kraehahn
-Bild 2: privates Bild, im Zuge der Interviewaufnahmen mit Frau Schmidt entstanden
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